Auch in Deutschland gibt es sie: Menschen, die nicht lesen und schreiben können. In einem bislang einzigartigen Masterstudiengang lernen Pädagogen, wie sie sogenannte funktionale Analphabeten fördern können.

In Deutschland gehört es zu den Tabuthemen, über die Betroffene nicht gerne sprechen: kaum lesen und schreiben zu können, eine Analphabetin beziehungsweise ein Analphabet zu sein. Die meisten Betroffenen schämen sich, weil davon ausgegangen wird, dass in einem hochentwickelten Land wie Deutschland mit einem entsprechenden Bildungssystem jeder lesen und schreiben können sollte. In der Fachsprache wird daher von „funktionalem Analphabetismus“ gesprochen. Das bedeutet, dass die Betroffenen – obwohl sie eine Schule besucht haben – zu geringe Schreib- und Lesefähigkeiten haben, um sich im Alltags- oder Berufsleben zurechtzufinden. Lange war nicht bekannt, wie hoch die Zahl von Analphabeten und funktionalen Analphabeten in Deutschland ist:

„Wir haben 2011 endlich eine Studie bekommen, die uns sagt, dass 14,5 Prozent der Menschen in Deutschland zu diesen funktionalen Analphabeten gehören.“

Cordula Löffler, Professorin für sprachliches Lernen an der Pädagogischen Hochschule Weingarten in Baden-Württemberg, war froh, dass im Jahr 2011 endlich Zahlen zum Analphabetismus in Deutschland veröffentlicht wurden. In der Studie der Universität Hamburg wurde festgestellt, dass 14,5 Prozent der Deutschen, also etwa 7,5 Millionen Menschen, die im Arbeitsleben stehen, keine einfachen Texte lesen oder schreiben können und somit funktionale Analphabeten sind. Das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat bereits 2007 damit begonnen, Projekte zu fördern, um Pädagogen in diesem Bereich zu qualifizieren. Der Masterstudiengang „Alphabetisierung und Grundbildung“ an der PH Weingarten gehört dazu. Er wurde im Wintersemester 2009/2010 ins Leben gerufen. Silvia und ihre Kommilitonin Jenny gehören zu denjenigen, die sich für den Masterstudiengang eingeschrieben haben. Beide kommen aus Österreich und können, wie alle anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen auch, schon einiges an pädagogischer Erfahrung nachweisen. Die reicht aber nicht aus, um funktionale Analphabeten erfolgreich zu unterrichten. Darin sind sich Silvia und Jenny einig:

„Hier geht’s halt ganz klar um Erwachsenenbildung. Da geht’s jetzt halt viel um: Wie schafft man den Zugang zu diesen Menschen? Lernberatung, Lernorte. / Also, dass man nicht in den herkömmlichen Lernorten wie Volkshochschule ansetzt, sondern dass man neue Lernorte findet wie zum Beispiel in Betrieben.“

Für die beiden Pädagoginnen, die sonst eher mit Jugendlichen in der Schule zu tun haben, bedeutet es eine Herausforderung, in der Erwachsenenbildung tätig zu sein. Weil funktionaler Analphabetismus ein Tabuthema ist, muss man, wie es Silvia ausdrückt, erst einen Zugang zu den Menschen finden, ihnen ihre Ängste und ihre Scham nehmen. Darüber hinaus ist für beide auch der Lernort wichtig. Jenny findet, dass man nicht damit beginnen, ansetzen, sollte, Lernorte zu wählen, die sowieso schon Erwachsenenbildung betreiben. Dazu gehören auch Volkshochschulen. Das sind gemeinnützige Weiterbildungszentren in Städten und Landkreisen. Interessierte können an Fort- und Weiterbildungskursen teilnehmen und müssen dafür eine Kursgebühr zahlen. Jenny meint, dass es auch in Firmen entsprechende Alphabetisierungsangebote geben könnte. Trotz eines offensichtlichen Bedarfs an Lehrkräften ist das Interesse an dem Masterstudiengang in Weingarten eher gering. Seit Beginn haben sich pro Semester weniger als zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingeschrieben. Das hat seinen Grund: Die Studierenden müssen nämlich eine Studiengebühr von 1000 Euro pro Semester bezahlen. Das ist allerdings notwendig, erläutert Cordula Löffler:

„Das ist eine gesetzliche Vorschrift: Wir müssen leider bei diesen weiterbildenden Studiengängen kostendeckend arbeiten.“

Wer sich für den Masterstudiengang bewirbt, muss bereits ein abgeschlossenes Studium in den Bereichen Lehramt, Pädagogik, Sozialarbeit oder Psychologie nachweisen sowie eine mindestens einjährige Berufserfahrung in einem der Bereiche. Damit gilt der Studiengang als Weiterbildung. Die Hochschule ist daher, wie Cordula Löffler sagt, gesetzlich verpflichtet, Studiengebühren zu erheben. Ansonsten kann sie nicht kostendeckend arbeiten. Dieser Begriff aus der Wirtschaftssprache bedeutet, dass sich die Ausgaben, die Kosten, mit den Einnahmen in etwa ausgleichen, sich decken. Die Studiengebühr würde sich für die Studierenden lohnen, wenn es in diesem Bereich auch jede Menge gut bezahlter Jobs gäbe. Das ist jedoch laut Cordula Löffler nicht so:

„Die Praxis sieht leider ganz schlecht aus, weil die Alphabetisierung nicht in unserem Bildungssystem fest verankert ist, sondern angesiedelt ist an den Volkshochschulen.“

Weil das Thema „Alphabetisierung“ kein Bestandteil deutscher Schullehrpläne ist, dort nicht verankert ist, sieht die Praxis schlecht aus. Die gängige Formulierung „Das sieht in der Praxis schlecht aus“ wird gerne verwendet, wenn Anspruch und Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Bislang ist es laut Cordula Löffler so, dass nur Volkshochschulen entsprechende Alphabetisierungskurse anbieten. Das Thema ist dort angesiedelt, gehört dorthin. Volkshochschulen können ihren Dozentinnen und Dozenten aber keine hohen Honorare zahlen. Sie bekommen von ihren kommunalen Trägern nicht die notwendigen Finanzmittel, um höhere Honorare zahlen zu können. Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Österreich, wie Jenny erzählt:

„In Österreich hat sich zumindest jetzt einmal die Situation verändert, weil es von staatlicher Seite mehr Anerkennung für diese Arbeit auch gibt – dass jetzt seit 2014 ganz klar formuliert ist, dass allen diese Basisbildung zugänglich gemacht werden soll. Also, da besteht jetzt in Österreich ein Recht darauf, was in Deutschland nicht der Fall ist.“

Anders als in Deutschland besteht in Österreich für Erwachsene ein gesetzliches Anrecht darauf, Lesen und Schreiben gebührenfrei zu lernen. Es ist in einem entsprechenden Gesetz so formuliert, schriftlich festgehalten. Das hat dort zu einer hohen Nachfrage nach entsprechend ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen geführt. Deshalb kommt etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Alphabetisierungsstudiengang der PH Weingarten aus Österreich. Zwar gibt es in Deutschland noch keine vergleichbaren Pläne. Einige größere Volkshochschulen allerdings haben das Problem erkannt. Dazu gehört Frankfurt am Main. Sevlan, die dort nur freiberuflich als Dozentin arbeitet, ist froh, dass sie den Masterstudiengang absolviert – aus zwei Gründen:

„Es ist teuer, aber man lernt viel. Also, nachdem ich Studium abgeschlossen habe, kann ich fest angestellt werden.“

Sevlan soll nach Ende ihres Studiums festangestellt werden. Zu wünschen ist, dass sich zukünftig viele Bildungseinrichtungen diesem Beispiel anschließen. Denn nur so kann die Zahl der Analphabeten in Deutschland weiter gesenkt werden.

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