Heimat als Erfahrungsraum der Vertrautheit

Heimat – was ist das eigentlich? Die Frage ist leicht gestellt, aber schwer beantwortet. Wer andere mit ihr plagt, bekommt statt einer Begriffsbestimmung vorab meist sehr Persönliches und Konkretes zu hören: den Namen eines Ortes oder einer Landschaft. Und fast immer fällt dann ein Satz wie dieser: „Da bin ich geboren, da kenne ich mich aus.“

Heimat, so scheint es, bezeichnet einen unverwechselbaren Erfahrungsraum der Vertrautheit, der dem Kinde, dem noch jungen Menschen unmerklich zuwächst. Denn viel leicht nur ein Kind nimmt, wie aus dem Anbeginn der Schöpfung, mit allen seinen Sinnen und stets gefühlskräftig seine Umgebung in sich auf; neben dem Auge und Ohr, neben Bildern und Klängen, nahe am Ertasten, am Greifen und Begreifen mit den Händen ist sogar die Nase wichtig, die Eindringlichkeit der Gerüche.

Solch eine gefühlsstarke Vertrautheit lässt sich später kaum noch nachholen; um den Schriftsteller Simenon zu zitieren: „Alles, was wir intensiv an Gefühlen und Eindrücken in uns speichern, tun wir bis zum Alter von siebzehn, höchstens achtzehn Jahren.“ Doch in der Intensität ist zugleich eine Kraft zum Bewahren angelegt. Wenn Heimat riecht, dann kann nachJahrzehnten ein Anhauch genügen, um uns sofort zurückzuversetzen. Darum handelt es sich um einen Schatz des vordergründigen Vergessens noch oder gerade dem Alternden bleibt. Wenn freilich Heimat als Möglichkeit mit jedem Kind neu geboren wird und allmählich ihm zuwächst, dann weiß es doch nichts davon. Es hat noch keinen Begriff von der Sache, um die es geht. Erst ein Riss im Vorhang des Selbstverständlichen, der Abstand oder der Verlust lassen uns Heimat erkennen. Darum ist jede Entdeckung von Heimat nahe am Heimweh angesiedelt, darum blicken wir zurück auf die einstige Geborgenheit, als handele es sich um den Garten Eden, aus dem wir unerbittlich und unwiderrufbar vertrieben wurden.

Aber so sehr die Sehnsucht nach rückwärts verklären mag, was einmal war, so handelt es sich doch nicht um eine Ilusion und schon gar nicht um etwas Nebensächliches. Zu den gesicherten Erkenntnissen der Forschung und Erfahrung gehört, dass schon Kleinkinder auf die Herstellung eines „Urvertrauens“ angewiesen sind, wenn sie ihren Weg ins Leben ohne Schäden finden sollen, die unter Umständen nie mehr zu heilen sind. Bedingung des Urvertrauens ist die stetig – zuverlässige Zuwendung der Mutter oder einer anderen „Bezugsperson“. Heimat indessen bezeichnet eigentlich nur die allmähliche Ausweitung dieser Vertrautheit über die eine Person hinaus auf das Lebensgefüge, das sich dem Kinde Schritt um Schritt mit seinen Sinnes- und Bewegungsmöglichkeiten erschließt.

Die Wissenschaft redet vom „ Hospitalismus“ und meint damit Entwicklungsschäden, die bei noch so einwandfreier Betreuung entstehen, wenn das Personal der Klinik oder des Heimes ständig wechselt. Der Gedanke liegt zumindest nahe, dass es auch Entwicklungsschäden aus Heimatmangel geben kann – heute mehr denn je. Denn gehört nicht zum modernen Dasein ein unaufhörlicher Kulissenwechsel, der es schwer, wenn nicht aussichtslos macht, die Vertrautheit überhaupt herzustellen? Stellt nicht zum Beispiel das Fernsehen geradezu den Inbegriff des ständigen und stets unverbindlichen Kulissenwechsels dar? Oder, um etwas nur dem Anschein nach Nebensächliches zu nennen: Die moderne Manie, jede Ware steril und duftfrei in Folien zu verscheißen, sogar Bücher, schafft Möglichkeiten ab, Dinge buchstäblich zu begreifen und erriechen. Hängt vielleicht das Fahrige, Zappelige, Unstete vieler Kinder und Jugendlicher, ihr Hin und Her zwischen Überbegeisterung und Verzagen, zwischen Aggression und Ängsten mit der misslungenen Vertrautheit, mit dem Heimatmangel zusammen? Hat, vorbewusst, womöglich auch die moderne Angst vor dem Alter damit zu tun, dass seine Wegzehrung immer karger gerät, weil die Schatztruhen des Erinnerns in der Kindheit nicht mehr oder bloß noch mit falschem Flitter gefüllt wurden?

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21.Für viele Menschen ist Heimat gleich bedeutend mit ihrem Geburtsort.
22.Wer seine Kindheit nicht an dem Ort verbringt, wo er geboren ist, hat keine Heimat.
23.Ein Kind nimmt seine Umgebung intensiver wahr als ein Erwachsener.
24."Heimat“ ist für viele vor allem mit Gerüchen verbunden.
25.Alte Menschen vergessen oft ihre Erinnerungen.
26.Erst aus der Distanz heraus weiß man Heimat zu schätzen.
27.Kleinkinder brauchen für eine gesunde Entwicklung die Erfahrung des Urvertrauens.
28.Das Gefühl des Urvertrauens kann nur die Mutter vermitteln.
29.Entwicklungsschäden bei Kindern und Jugendlichen entstehen lediglich durch Wechsel des Personals.
30. Die Herstellung der Vertrautheit erweist sich heutzutage leichter als früher.

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