Sie waren acht Personen mit acht sehr unterschiedlichen Charakteren: die Familie des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann. Eine Gesamtbiografie bietet interessante Einblicke in das Leben der Literatenfamilie.
 
In der Familie wurde er „der Zauberer“ genannt – unter Anspielung auf seinen Roman „Der Zauberberg“. Manchen gilt er als der größte deutsche Schriftsteller seit Johann Wolfgang von Goethe: Thomas Mann. Weltweit haben nicht nur Germanisten mindestens eines seiner Werke im Bücherschrank stehen. Für „Die Buddenbrooks“, die Geschichte einer Lübecker Kaufmannsfamilie, erhielt Paul Thomas Mann, wie er mit vollem Namen hieß, 1929 den Nobelpreis für Literatur. Unzählige Biografien sind über den Schriftsteller veröffentlicht worden, der im August 1955 im Alter von 80 Jahren starb. Aber nicht nur über ihn – auch über seine Geschwister, seine Frau Katharina „Katia“ sowie seine sechs Kinder Erika, Klaus, Golo, Monika, Elisabeth und Michael Mann. Eine Lücke musste aber nach Ansicht des Germanisten Tilmann Lahme noch gefüllt werden:
 
„Wir haben da unglaublich viel Material und Biografien und Forschung, die aber im Prinzip die ‚Manns‘ jeweils als Einzelfiguren in den Blick genommen haben. Es hat quasi jeder seinen Biografen gefunden. Nur glaube ich, dass wir dadurch nicht, wenn wir das einfach addieren, eine Familie bekommen. Und was fehlt, ist der Blick auf die Familie. Wenn man auf die Familie schaut, dann ist das noch mal ein neuer Blick.“
 
Tilmann Lahme stellte fest, dass sich die Biografen nur mit jeweils einer Person der achtköpfigen Familie von Thomas und Katia Mann befasst haben. Sie haben diese als Einzelfiguren in den Blick genommen. Was fehlte, war eine Biografie der gesamten Familie. Dabei hätte es nach Meinung von Tilmann Lahme allerdings nicht gereicht, alles das, was man an Informationen über die einzelnen Personen hatte, zu einer Biografie zusammenzuführen, sie einfach zu addieren. Für seine Gesamtbiografie „Die Manns – Geschichte einer Familie“ wertete Tilmann Lahme bislang unbekanntes Archivmaterial sowie Familienkorrespondenz aus. Die Biografie beginnt in den 1920er-Jahren der Weimarer Republik, als alle sechs Kinder von Thomas und Katia Mann bereits auf der Welt sind. Und sie endet 2002 mit dem Tod des letzten Kindes, Elisabeth. Was eint die sechs „Mann“-Geschwister und ihre Eltern? Tilmann Lahme meint:
 
„Wir haben im Prinzip eine Familie, die entsteht durch eine Notgemeinschaft, also die durch die Emigration, durch das Jahr ’33, durch den Verlust der Heimat entsteht. Und diese Notgemeinschaft, die dann zusammenhalten muss, weil sie gar nicht anders kann im Ausland, weil man aufeinander angewiesen ist – nicht zuletzt auch finanziell. Das schweißt diese Familie doch auf eine neue Weise zusammen. Und eben nicht nur im Positiven. Und ohne dieses Jahr ’33, ohne diese Zäsur wäre die Familie – so wie man das halt üblicherweise kennt – lockerer geworden. Man hätt’ sich noch mal gelegentlich zu Weihnachten getroffen. Das wär’s gewesen.“
 
Für Tilmann Lahme stellt die achtköpfige Familie eine Notgemeinschaft dar, also einen Familienverbund, der gemeinsam lebte, weil es die Situation verlangte. Denn die Familie entschied sich, Deutschland zu verlassen, als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gekommen waren. Ihr Haus in München, das sie liebevoll „Poschi“ nannten, zu verlassen, stellte in ihrem bisherigen Leben einen großen Einschnitt dar. Es war eine Zäsur. Zunächst gingen sie nach Frankreich, dann in die Schweiz, bis sie 1938 in die USA übersiedelten. Dort, im Ausland, war man aufeinander angewiesen, voneinander abhängig. Diese Situation schweißte die Familie zusammen, verband sie eng miteinander. Wäre man nicht ins Exil gegangen, so Tilmann Lahme, hätte man sich vielleicht nur ab und zu gesehen. Das Verhältnis wäre locker gewesen. Diese aus der Not geborene Gemeinschaft hatte aber, so Tilmann Lahme, für die Kinder auch eine Kehrseite:
 
„Was sich definitiv als so etwas wie ein konstituierendes Moment dieser Familie durchzieht ist, das Problem, sich zu lösen. Also, wir haben eigentlich sechs Kinder, die allesamt diesem Haus, diesem Vater, diesen Eltern verhaftet bleiben, auch inAbhängigkeiten bleiben. Das sind auch ganz oft einfach materielleAbhängigkeiten. Ich glaube, das ist so ein Punkt, dieses Sich-nicht-lösen-Können. Das ist so etwas, was sie wirklich miteinander verbindet. Dieses doch um diese Familie, auch um diesen Vater, Herumkreisen.“
 
Thomas Mann war eine Art Übervater, eine Respekt einflößende, beherrschende Person. Mit Ausnahme von Elisabeth, der Zweitjüngsten, hatte er zu seinen Kindern ein eher distanziertes Verhältnis. Katia Mann kümmerte sich weitgehend um deren Erziehung. Dennoch gab es – so Tilmann Lahme – ein konstituierendes Moment, eine Gemeinsamkeit, die alle betraf, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht: Die Kinder konnten sich nicht vom Elternhaus lösen. Sie blieben ihm verhaftet, blieben stets eng mit ihm verbunden. Ein wirklich eigenständiges, unabhängiges Leben zu führen, schafften sie nicht, bekamen es nicht hin. Stattdessen kreisten sie, bewegten sich, um die Eltern, hauptsächlich den Vater, herum. Ein Grund war die selbstgewählte finanzielle Abhängigkeit vom Vater. Obwohl aus Tagebucheinträgen von Thomas Mann hervorgeht, dass er nach der Emigration Angst davor hatte, arm zu sterben, ging es der Familie Mann finanziell sehr gut. Sie lebte nicht nur von der Hälfte des Nobelpreisgeldes, das Thomas Mann in der Schweiz angelegt hatte, sondern auch von seinen Einnahmen aus dem Verkauf seiner Bücher. Außerdem hatte er einige Mäzene, finanzielle Förderer seiner Arbeit. Charakteristisch für die Familie ist nach Recherchen von Tilmann Lahme ein weiterer Punkt: Sie inszenierte sich selbst, stand gerne im Licht der Öffentlichkeit – allen voran Thomas Mann. Der Biograf zitiert dabei einen guten Freund der Manns, den Franzosen Pierre Bertheauund zieht Parallelen zur heutigen Zeit:
 
„‚Das ist ja gar nicht so erstaunlich, dass die alle schreiben, sondern das wirklich Erstaunliche an dieser Familie ist, dass sie das alles immer auch noch veröffentlichen müssen.‘ Also, all dieses Schreiben geht immer auch in die Öffentlichkeit, selbst wenn’s ganz privat und ganz intim ist. Das kann man in gewisser Weise auf unsere heutige Facebook- und Instagram-Mentalität übertragen, wenn man will. Nur eben, es ist nicht gewissermaßen‘nIrgendwie-ein-an-die-Öffentlichkeit-Treten, sondern es ist immer der Versuch, das über den Weg der Literatur zu machen.“
 
Pierre Bertheau stellte schon in den 1920er- Jahren fest, dass der ganze Schriftverkehr „der Manns“ mit der Öffentlichkeit geteilt wurde. Dabei spielte es auch keine Rolle, ob es sich dabei um intime, nur die Familie selbst betreffende Angelegenheiten handelte. Tilmann Lahme vergleicht das mit der Einstellung, der Mentalität, derjenigen, die sich heutzutage in sozialen Medien wie Facebook und Instagram ähnlich verhalten. Er prägt den Begriff Facebook- und Instagram-Mentalität. Einen Unterschied sieht er allerdings darin, dass es „den Manns“ nicht gleichgültig war, auf welche Art und Weise sie das machten. Es war nicht ein Irgendwie-an-die-Öffentlichkeit-Treten. Sie haben es über die von ihnen geschriebenen Bücher gemacht, über den Weg der Literatur. Klaus Mann etwa schrieb ganz offen in seinen Romanen über die eigene Homosexualität. Tilmann Lahme meint, dass gerade dieses Thema für die Familie in der damaligen Zeit ein Problem darstellte:
 
„Wir haben eine Familie, die eine Liberalität ausstrahlt und lebt und denkt, die für uns ja vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist, weil wir eben allesamt sagen: ‚Na ja, natürlich, ist doch kein Problem. Dann liebt Klaus Mann eben Männer und Golo Mann auch und seine Schwester Erika liebt eben Frauen und ab und zu auch mal einen Mann. Also, was ist schon dabei?‘ Aber das ist, wenn wir das wirklich zurück in ihre Zeit verlegen, schon sehr modern, und sie sind dort ihrer Zeit voraus. Das macht ja auch ein Stück ihres Problems aus, eben dass man das nicht einfach so ausleben darf.“
 
Aus heutiger Sicht wären die Homosexualität der beiden Mann-Söhne Klaus und Golo und die Bisexualität von Tochter Erika nichts Schlimmes. Man würde dem Thema keine große Bedeutung geben, ganz nach dem Motto: Was ist schon dabei? – eine Wendung, die immer dann verwendet wird, wenn etwas als nicht schlimm angesehen wird. Für eine Familie wie „die Manns“, die Liberalität ausstrahlt, also eine weltoffene Haltung zeigt, war es aber ein Problem. Denn eigentlich waren sie im Umgang mit dem Thema fortschrittlicher als die damalige Gesellschaft, waren ihrer Zeit voraus. Aber sie durften ihre Sexualität eigentlich nicht ausleben, sie ohne Bruch gesellschaftlicher Normen nicht offen zeigen. Thomas Mann selbst hielt seine eigene Homosexualität geheim – obwohl er sich öffentlich für die Abschaffung des Paragrafen 175 einsetzte, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Denn ein öffentliches Bekenntnis zur damaligen Zeit hätte den Verlust seines gesellschaftlichen Ansehens bedeutet. Er sah sich selbst als einen der wichtigsten kulturellen Repräsentanten Deutschlands. Im amerikanischen Exil sagte er:
 
„Where I am, there is Germany“ – „Wo ich bin, ist Deutschland.“ Nach Ansicht von Tilmann Lahme stimmt diese Selbsteinschätzung des Literaturnobelpreisträgers in einem gewissen Grad noch bis heute:
 
„Ich glaube jedenfalls, er ist nach wie vor ein sehr großer Repräsentant. Wir haben das zum Beispiel gesehen, als seine Villa in Los Angeles, im Pacific Palisades, Vorort von Los Angeles, vermietet werden sollte. Und wie die dann natürlich damit auch geworben haben, ja, die Villa von Thomas Mann und so. An solchen Kleinigkeiten erkennt man das vielleicht. Und man bekommt ja immer wieder mit, es lesen doch immer noch unglaublich viele Menschen die Buddenbrooks und erkennen darin ihre eigene Familie wieder. Und das kann auch in Neuseeland sein.“
 
Selbst in den USA ist Thomas Mann nach wie vor kein Unbekannter. Das erkennt man laut Tilmann Lahme an Kleinigkeiten, an einzelnen Dingen. Ein Beispiel ist, dass mit seinem Namen bei der Vermietung des von seiner Familie bewohnten Hauses Werbung gemacht wurde. Die Manns hatten sich 1942 in dem Vorort von Los Angeles ein Haus gebaut, in dem sie bis zu ihrer Rückkehr nach Europa im Jahr 1952 lebten. Eine Bronzetafel mit dem Profil des Dichters, die an einem Ziegelpfeiler der Einfahrt in englischer und deutscher Sprache angebracht ist, weist darauf hin. Außerdem, so Tilmann Lahme, bekommt man mit, erfährt, dass das Werk, für das Thomas Mann den Literaturnobelpreis erhielt, auch im Ausland bekannt ist. Denn egal, ob in Europa, Asien, Afrika – oder eben Neuseeland: Familiengeschichten ähneln sich.

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