Deutsche gelten als ein Volk, das gerne und viel Alkohol trinkt, Bier und Wein gehören zum Kulturgut. Aber stimmt das Klischee? Trinken die Deutschen mehr Alkohol als andere? Eine – auch historische – Spurensuche.

„Trink doch dem Kindchen die Milch nicht weg, trink doch lieber Bier, trink doch der Kleinen die Milch nicht weg, mach es so wie wir. Wenn wir vergnügt an der Theke steh’n bis morgen früh um vier, dann muss der Wirt nur am Bierhahn drehn. Er wird bezahlt dafür …“

Dieser Schlager aus den 1960er-Jahren gibt einen Ratschlag: Wer zwischen einem nicht-alkoholischen Getränk und Bier entscheiden kann, sollte sich für das Bier entscheiden. In Deutschland wird nicht nur zu Festen des Brauchtums wie Karneval, Fasching oder dem Oktoberfest viel Alkohol getrunken, sondern auch regelmäßig. Nach einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD aus dem Jahr 2015 konsumiert jeder Deutsche durchschnittlich elf Liter reinen Alkohol pro Jahr. Deutschland liegt hier im oberen Viertel der OECD-Staaten. Schon vor mehr als 2000 Jahren waren die auf dem Gebiet des heutigen Deutschland lebenden Germanen wohl dafür bekannt, dass sie umgangssprachlich gerne „bechern“, eine größere Menge Alkohol trinken, sagt der Suchtforscher Professor Michael Klein:

„Es gibt diese historischen Quellen – bei Tacitus finden wir das unter anderem. Und dass die doch sehr beeindruckt waren von der Trinkfestigkeit der hier lebenden Völkerstämme. Und zu dieser Trinkfestigkeit gehörte eben ausschließlich, dass diese Völkerstämme in Gesellschaft getrunken haben. Von daher war also das exzessive Trinken in Gruppen sicherlich ‘n Phänomen, was hier sehr weit verbreitet war.“

Der römische Historiker Tacitus schrieb etwa im Jahr 98 nach Christus in seinem Bericht „Germania“ über die germanischen Volksstämme, dass man diese nicht weniger leicht mit alkoholischen Getränken als mit Waffen besiegen könne. Als man diesen Bericht im 15. Jahrhundert wiederentdeckte, glaubten die Gelehrten damals, eine objektive Quelle für das Wesen der „Deutschen“ gefunden zu haben. Sie galten als trinkfest, als Menschen, die große Mengen Alkohol trinken konnten, ohne erkennbar betrunken zu sein. Ein Phänomen, eine gesellschaftliche Erscheinungsform, war, dass sie angeblich am liebsten in Gesellschaft anderer und in großen Gruppen tranken. Bei diesen sogenannten Gelagen waren die Menschen maßlos, exzessiv, kannten keine Grenzen. Das Klischee der trinkfesten Germanen wurde übertragen auf die späteren Deutschen und so zu einem Bestandteil des sich langsam entwickelnden Nationalcharakters. Warum aber hat Alkohol in der deutschen Gesellschaft so eine große Bedeutung. Professor Michael Klein meint:

„Der Alkohol hat in Deutschland sicherlich schon immer ‘ne ganz zentrale Rolle gehabt, zum einen ist es ein integriertes Lebensmittel gewesen, insbesondere im Mittelalter war Alkohol überlebensnotwendig. Alkohol war soziales ‚Schmiermittel‘, also ein Mittel, was Sozialkontakte erleichtert hat und eben bei festlichen Ereignissen immer präsent war.“

Laut Professor Michael Klein gibt es zwei Gründe, warum in Deutschland gerne Alkohol getrunken wurde und wird: Früher trank man Alkohol nicht nur zur Entspannung oder weil er einem schmeckte. Alkohol war ein Lebensmittel, das einen Zweck erfüllte: Es war eine kalorienreiche und gesündere Alternative zum häufig mit gesundheitsschädlichen, lebensbedrohlichen Keimen verschmutzten Trinkwasser. Alkohol war daher überlebensnotwendig und gehörte zum täglichen Leben dazu, war integriert. Alkohol war auf der anderen Seite aber auch – wie es Professor Michael Klein formuliert – ein soziales „Schmiermittel“. Wie Fett bestimmte Teile eines Motors beweglich und am Laufen hält, ist das beim Alkohol im übertragenen Sinn auch: Alkohol in geselliger Runde zu trinken, vermittelt ein Gemeinschaftsgefühl und dient der Pflege von Kontakten. Es gehört zu Festen dazu, ist präsent. Dabei gibt es allerdings, wie Professor Michael Klein erklärt, auch gewisse Rituale, Gesten und Handlungen, die beachtet werden wollen:

„Alkohol als Mittel zur Herstellung sozialer Nähe, als soziales Schmiermittel, das findet sich immer noch in diesem Ritual des Zutrinkens. Was im Grunde eine Art Kontaktangebot und was von daher unheimlich wichtig war: Wenn einem also ein Trunk angeboten wurde, dass man das beantwortet hat durch Mittrinken. Und das nicht zu tun, war im Grunde so etwas wie eine soziale Beleidigung.“

Wer einem unbekannten Menschen zutrinkt, ihn mit erhobenem Glas grüßt und auf sein Wohl trinkt, signalisiert damit: „Ich möchte dich kennenlernen.“ Es ist ein Kontaktangebot. Das ist heute so und war es auch in früheren Zeiten. Und wer ein ihm angebotenes alkoholisches Getränk, einen Trunk, nicht annahm, galt als unhöflich. Enthaltsamkeit, also keinen Alkohol zu trinken, widersprach den Konventionen. Viele Staaten haben heute allerdings kein Problem damit, dass zu wenig Alkohol getrunken wird, sondern eher mit dem Gegenteil, wie Professor Michael Klein sagt:

„Dass kontinuierlich zu vielen Gelegenheiten getrunken wird, nicht nur beim Essen und bei anderen Mahlzeiten, sondern eben auch am Abend, und dass Alkohol auch ein ganz wichtiges Rauschmittel ist.“

Alkohol ist inzwischen nicht mehr nur ein sogenanntes Genussmittel, also etwas, das man gerne zum Beispiel zum Essen trinkt, weil es schmeckt. Es wird regelmäßig, kontinuierlich, getrunken. Und es ist ein Rauschmittel, etwas, das die Sinne „berauscht“, dazu führt, dass man die Kontrolle über sich und sein Handeln verliert. Diese Berauschung steht jedoch im starken Gegensatz zu einer anderen Eigenschaft, für die Deutsche in aller Welt bekannt sind, meint Professor Michael Klein:

„Wir haben diesen Widerspruch: auf der einen Seite nach Korrektheit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit – das sind alles Dinge, die unter Alkohol schwer möglich sind. Aber man kann natürlich davon ausgehen, je mehr man diese Sekundärtugenden pflegt, desto mehr hat man einen Wunsch nach Ausgleich.“

Als typisch deutsche Eigenschaften gelten in aller Welt Pünktlichkeit, Genauigkeit und Verlässlichkeit. Professor Michael Klein bezeichnet sie als Sekundärtugenden. Sie dienen dem Funktionieren der Gesellschaft und sind nicht ethisch begründet. Deshalb sind sie „sekundär“, zweitrangig – im Gegensatz zu den Primärtugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Wer zu sehr nach diesen Sekundärtugenden lebt, sie pflegt, braucht einen Ausgleich, etwas, das ein Gegengewicht schafft. Und das kann dann auch der übermäßige Genuss von Alkohol sein, weil der seine Vorteile hat, sagt Professor Michael Klein:

„Dass Alkohol ‘ne Substanz ist, die im kurzfristigen Konsum dem Konsumenten sehr viele Vorteile bringt: Berauschung, Nachlassen von Ängsten und von Stress. Das ist so psychologisch schon eine fast ideale Substanz für die Veränderung der Psyche.“

Alkohol hat im kurzfristigen Konsum, also auf einen kurzen Zeitraum betrachtet, eine durchaus erwünschte Wirkung auf den Körper: Eine angetrunkene Person wird risikobereiter, hat weniger Angst und fühlt sich entspannt. Alkohol ist, wie es Professor Michael Klein ausdrückt, ein geeignetes, ideales, Mittel, um das eigene Wesen, die Psyche, zu verändern. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums konsumieren 9,5 Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig zu viel Alkohol, 1,5 Millionen gelten sogar als alkoholabhängig. Während es der Tabakindustrie allerdings inzwischen weitgehend verboten ist, noch für ihre Produkte zu werben, sieht das beim Alkohol anders aus. Gegen ein Kulturgut und gesellschaftlich anerkanntes „Schmiermittel“ mit Gesetzen angehen zu wollen, ist eben nicht einfach.

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