In den 1990er Jahren entstanden die ersten Obdachlosenzeitungen in Deutschland. Noch stellt das Internet kaum eine Bedrohung dar. Die Auflagen sind gleichbleibend hoch. Zwei Beispiele aus Hamburg und München …

Sinkende Verkaufszahlen und immer weniger Festanstellungen: Der Trend in der Branche der gedruckten Zeitungen betrifft Magazine wie BISS aus München oder Hinz&Kunzt aus Hamburg nicht. Beide feierten 2013 ihr 20-jähriges Jubiläum. Sie gehören in Deutschland zu den größten Straßenzeitungen, umgangssprachlich auch Obdachlosenzeitungen genannt. BISS hat nach eigenen Angaben eine monatliche Auflage von etwa 38.000 Exemplaren, Hinz&Kunzt spricht von etwa 68.000 Exemplaren monatlich. Beide hatten ein Vorbild: „The Big Issue“, eine Straßenzeitung, die 1991 in London entstanden ist. Der Gedanke hinter diesen Zeitungen ist, dass obdachlose und wohnungslose Menschen statt zu betteln, etwas eigenes Geld verdienen, Kontakt zu Menschen finden, an Selbstvertrauen gewinnen und Wertschätzung erfahren. Das 20-jährige Jubiläum war für Gabriele Koch von Hinz&Kunzt aber eigentlich kein Grund zum Feiern:

„Es ist in gewisser Weise ein trauriges Jubiläum, weil es uns überhaupt noch gibt. Negativ gesehen, dass sich heute die Situation schlimmer darstellt als vor 20 Jahren, als wir angefangen haben. Wir haben heute mehr Menschen auf der Straße, nicht nur in Hamburg, vielleicht sogar deutschlandweit und europaweit, die Hilfe benötigen.“

Gabriele Koch bezeichnet das Jubiläum als „traurig“. Denn die Existenz von Obdachlosenzeitungen beweist, dass es das Problem noch gibt: dass Menschen kein Dach über dem Kopf haben und auf der Straße leben müssen. Rund 30 Straßenzeitungen werden in deutschen Städten produziert und anschließend von Wohnungslosen verkauft. Diese dürfen einen Anteil vom Verkaufspreis behalten. Beim Münchner Magazin BISS etwa liegt der Verkaufspreis bei 2,20 Euro, die Hälfte ist für den Verkäufer. BISS bietet ab einer bestimmten Anzahl verkaufter Exemplare auch die Möglichkeit einer Anstellung in Teilzeit beziehungsweise Vollzeit. Auch Hinz&Kunzt hat feste Arbeitsplätze geschaffen, einige ehemalige Verkäufer arbeiten im Vertrieb. Die Beiträge der Magazine kommen inzwischen aber fast alle von professionellen Journalistinnen und Journalisten. Allerdings sind bei BISS in jedem Heft vier Seiten für Beiträge aus der sogenannten Schreibwerkstatt reserviert. Hildegard Denninger von BISS beschreibt, was das für manchen Obdachlosen bedeutet:

„Es hat uns mal ‘n Therapeut gesagt: Die Schreibwerkstatt ersetzt quasi bei manchem einen Therapeuten, weil er das sich von der Seele schreiben kann und weil er seine Sache darlegen kann.“

Schreibwerkstätten sind Kurse, in denen Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter Anleitung lernen, Texte zu verfassen. Ähnlich ist es bei BISS. Einmal wöchentlich findet die Schreibwerkstatt statt. Eine Journalistin schaut über die Texte drüber, gibt Tipps. Die Beiträge geben, so die Verantwortlichen, „die persönliche Meinung der Autoren wieder, nicht die der Redaktion“. Berichtet wird vom Alltag als Obdachlose beziehungsweise Obdachloser. Manche Geschichten sind wirklich so passiert, andere sind erfunden und drücken die eigenen Gedanken und Gefühle aus. Obdachlose haben die Möglichkeit, ihre Sache, also das, was sie erlebt haben oder fühlen, darzulegen. Die Schreibwerkstatt ersetzt, wie es Hildegard Denninger formuliert, in gewisser Weise einen Psychotherapeuten. Dort würde sich jemand seine Probleme „von der Seele reden“, in der Schreibwerkstatt schreibt sie oder er sie sich von der Seele. Die beiden Redewendungen werden im übertragenen Sinn verwendet, wenn sich eine Person von belastenden Problemen befreit. Die Straßenzeitungen von heute sind aber nicht mehr vergleichbar mit denen der Gründungszeit in den 1990er Jahren, sagt Ronald Lutz, Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Erfurt:

„Am Anfang waren das sehr wohl durchaus auch Obdachlose, manchmal auch unter Anleitung von Sozialarbeitern oder von Ehrenamtlichen, die das produziert haben. Es sind immer weniger Obdachlose, die tatsächlich in Redaktionen arbeiten. Das finde ich ‘n bisschen bedauerlich, aber das liegt halt darin, dass diese Zeitungen im Laufe der Jahre sehr stark eben halt auch auf dem Markt unter Konkurrenzdruck gerieten und natürlich nur diejenigen wirklich sich verkaufen konnten, die professioneller gemacht waren.“

Als die ersten Straßenzeitungen auf den Markt kamen, waren Obdachlose – so Professor Ronald Lutz – ihre eigenen Redakteure und Produzenten. Unterstützt, angeleitet, wurden sie damals von Sozialarbeiternund Ehrenamtlichen. Sozialarbeiter sind Menschen, die bei kommunalen oder karitativen Einrichtungen beschäftigt sind und Hilfsbedürftige beraten und unterstützen. Menschen, die ehrenamtlich helfen, tun das in ihrer Freizeit, ohne dafür eine Bezahlung zu erhalten. Sie müssen auch keine besondere Ausbildung nachweisen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt aber waren die von Obdachlosen selbst erstellten Zeitungen nicht mehr attraktiv genug für die Leser. Sie wurden nicht von journalistisch ausgebildeten Profis gemacht, waren nicht professionell. Professor Ronald Lutz bedauert, dass Straßenzeitungen nicht mehr von denen gemacht werden, die es betrifft. Aber die Konkurrenz auf dem Markt wurde stärker, sie gerieten unter Konkurrenzdruck. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern stellt sich zunehmend die Frage, ob Obdachlosenzeitungen im Internet „verkauft“ werden können. Für Gabriele Koch von Hinz&Kunzt ist das schwer vorstellbar:

„Wir wollen eigentlich überhaupt nicht drauf verzichten, auf der Straße eine gedruckte Ausgabe zu verkaufen, weil wir wollen einfach, dass die Verkäufer etwas Attraktives in der Hand haben. Und das wird sich nicht ersetzen lassen durch reine Online-Präsenz.“

Für Gabriele Koch steht fest: Nur im Internet vertreten, online präsent, zu sein, kann die Attraktivität einer gedruckten Zeitung nicht ersetzen. Außerdem spricht noch ein Aspekt dagegen: Tausende von Verkäuferinnen und Verkäufern würden wahrscheinlich ihren Job verlieren.

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