Sie werden für verrückt gehalten und gemieden: Menschen mit dem Tourette-Syndrom. Hauptgrund sind ihre unkontrollierten Bewegungen und Äußerungen, die „Tics“. Bei Tourette gibt es medizinische Hilfe, aber keine Heilung.

Sprecher:
„Warum brüllt der denn so? Was soll das denn? Der ist wohl verrückt!“ Das ist in der Regel das Verhalten, wenn man auf der Straße, in der U-Bahn oder wo auch immer einem Menschen mit dem Tourette-Syndrom begegnet. Typisch für die Erkrankung sind die sogenannten „Tics“: Dazu gehört, Grimassen zu schneiden, mit den Füßen zu stampfen, zu spucken oder plötzlich laut zu schreien. Die Betroffenen haben selbst keinen Einfluss auf ihre Bewegungen und die Laute, die sie machen. Zum ersten Mal beschrieben wurde die Erkrankung von dem französischen Arzt Georges Gilles de la Tourette. Das war 1885. Lange wurde die Erkrankung kaum beachtet, was sich inzwischen geändert hat. Für die Diagnose „Tourette“ müssen mindestens drei „Tic“-Störungen vorhanden sein, zwei motorische, die Bewegung betreffend, und eine stimmliche, vokale. Oft treten die Störungen im Kindes- und Jugendalter auf, wie bei Ben:

Ben:
„Ich glaube, das ging los mit Augenkniepen, so bis sechs, sieben. Und dann den Kopf in den Nacken hauen, und[Räuspern, schniefen, Schreien] dann gingen so die [Spucken] ersten motorischen Sachen los. Das ist wie ‘ne Feder, die sich aufzieht. Und je mehr sie sich aufzieht, umso stärker entlädt sie sich auch. Das ist wie ’n Zwang im Kopf.“

Sprecher:
Ben erinnert sich, dass er im Alter von sechs bis sieben Jahren anfing, die Augen zusammenzukneifen, zu kniepen. Und dann kamen weitere unkontrollierte, zwanghafte Bewegungen dazu. Für das dabei empfundene Gefühl verwendet er das Bild einer Feder, die gespannt, aufgezogen wird. Die Spannung entlädt sich irgendwann. Lautes Räuspern, schreien oder spucken – bei Ben kommt all das in unregelmäßigen Abständen vor, manchmal tritt er auch mit einem Bein unkontrolliert nach vorne. Viele, die unerwartet mit dem Verhalten von Tourette-Patienten konfrontiert werden, finden es abstoßend. Diese Erfahrung machte auch Ben:

Ben:
„In der Schule wurde ich immer als Spasti beschimpft und Vollidiot und keine Ahnung was, und haben mir dann Schläge angedroht nach der Schule. Und das hat mich natürlich geprägt.“

Sprecher:
Weil Ben anders war als andere Kinder, wurde er von seinen Mitschülern beschimpft. Abwertende Begriffe wie Spasti oder Vollidiot werden für Menschen verwendet, die als dumm angesehen werden – wie Menschen mit Tourette-Syndrom, die brüllen, bellen oder gar obszöne, unanständige Wörter mit sexuellem Hintergrund rufen. Vor allem das wissenschaftlich als Koprolalie bezeichnete Phänomen sorgt für viele Vorurteile. Allerdings betrifft es wie Kirsten Müller-Vahl, Professorin an der Medizinischen Hochschule Hannover, erklärt, nur einen Teil aller Tourette-Patienten:

Kirsten Müller-Vahl:
„Das weiß man heute sehr gut, dass ungefähr zwanzig, vielleicht maximal dreißig Prozent
aller Menschen mit Tourette-Syndrom diese Koprolalie haben, also den Drang, Schimpfwörter auszusprechen. Bei der ganz großen Mehrzahl der Patienten besteht das überhaupt nicht. Es gibt einige Hypothesen und Spekulationen, dass wir im Gehirn sozusagen ein Zentrum für Obszönitäten haben und dass dieses Zentrum möglicherweise nicht ausreichend gehemmt wird. Das ist aber nur eine Hypothese. Die genaue Ursache aber ist bis heute nicht bekannt.“

Sprecher:
Es gibt laut Kirsten Müller-Vahl nur Annahmen und Mutmaßungen, Hypothesen und Spekulationen, woher der Drang zur Koprolalie bei Tourette-Patienten kommt. Ganz genau wissen es die Wissenschaftler nicht. Klar ist aber, dass es sich um eine Störung im Gehirn handelt. Um Bewegungen kontrolliert ausführen zu können, ist das korrekte Zusammenspiel verschiedener komplexer Netzwerke im Gehirn notwendig – vergleichbar mit Schaltkreisen elektrischer Geräte. Beim Tourette-Syndrom arbeiten die verschiedenen Hirnzentren nicht richtig zusammen. In besonders schweren Fällen erhalten Tourette-Patienten mit sehr heftigen „Tics“ einen sogenannten „Hirnschrittmacher“. Bei dem wissenschaftlich als „tiefe Hirnstimulation“ bezeichneten Verfahren werden dem Patienten zwei kleine Metallplättchen, Elektroden oder Sonden genannt, implantiert, also bei einer Operation eingesetzt. Über dünne Kabel sind sie mit einem kleinen Gerät verbunden, das dauerhaft Stromstöße an die beiden Sonden abgibt. Das Verfahren sorgt dafür, dass die Patienten wieder weitgehend normal leben können. Auch Ben erhielt im Jahr 2006 einen solchen „Hirnschrittmacher“. Und zunächst schien auch alles gut funktioniert zu haben, wie er erzählt:

Ben:
„Ja, da waren eigentlich 60 bis 70 oder 80 Prozent schon besser. Es war toll, ein euphorisierendes Gefühl. Und dann bin ich leider auf ‘n Kopf gefallen, und dann sind
die Sonden verrutscht, und seitdem bin ich noch dreimal implantiert worden. Heute ist es eigentlich dann ganz passabel so, so wie es ist. Mit 50 Prozent kann man sich zufrieden geben, glaube ich.“

Sprecher:
Nach der Operation war Ben sehr, sehr glücklich, voller Freude. Er war euphorisiert. Denn seine Erkrankung hatte sich deutlich gebessert. Ein Unfall führte allerdings dazu, dass sich das änderte. Ben musste erneut operiert werden, insgesamt dreimal. Den Zustand wie nach der ersten Implantation hat er nicht mehr erreicht. Für ihn ist es aber gut genug, es ist passabel. Am liebsten ist Ben zuhause. Denn wenn er unter Menschen ist, kommt die Anspannung, dann ist er gestresst, und in solchen Situationen treten die „Tics“ wesentlich häufiger auf. Außer dem Wunsch, einen verständnisvollen Arbeitgeber zu finden, hat Ben noch einen anderen:

Ben:
„In Urlaub fahren. Bin ich seit über zehn, zwölf, 15 Jahren nicht mehr. Ich würd’ gerne mal wieder nach Spanien – auf jeden Fall da, wo ’s Meer ist.“

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